Welches Motiv würden Sie erwarten, wenn Sie die in Karlsruhe am besten verkaufte Postkarte erhalten? Diese Postkarte ziert keine romantische Ansicht unseres Schlosses oder den berühmten fächerförmigen Stadtgrundriss. Sie zeigt ein Best-of der zahlreichen Baustellen dieser Stadt. Kein Wunder, denn in Karlsruhe passiert viel: Mit der „Kombi-Lösung“ wurde nach 20 Jahren Planung und Umbau des Verkehrssystems ein Teil des Straßenbahnnetzes in den Untergrund verlegt und die Trennwirkung einer innenstadtnahen, stadtautobahnähnlichen Straße überwunden. Mit diesem Projekt wurden endlich die Voraussetzung geschaffen, die Innenstadt in ihren unterschiedlichen Qualitäten weiter zu entwickeln. Gleichzeitig musste und muss dringend Wohnraum geschaffen werden. Hierzu arbeiten wir an neuen nachhaltigen Quartieren und machen bestehende Stadtteile fit für die Herausforderungen der Zukunft. Ein Schwerpunkt liegt dabei auch in der Neustrukturierung vorhandener Gewerbegebiete. Hinzu kommen zahlreiche Einzelprojekte wie die Erweiterung und Sanierung des Badischen Staatstheater, der Neubau des Landratsamtes mit einem 90 m Hochpunkt oder der Umbau des Wildparkstadions.
Bei all den Entscheidungen, die es zu treffen gilt, ist es wichtig, nicht den Überblick verlieren. Dafür sorgt unser Räumliches Leitbild. Mit ihm haben wir ein räumliches Gerüst für abstrakte Visionen bis hin zu konkreten Projekten. Dieser gesamtstädtische Plan zur zukünftigen Entwicklung der Stadt wurde zusammen mit Bürgerschaft, städtischen Gremien und Verwaltung in einem bewusst breit angelegten Prozess erarbeitet. Sieben Ziele wurden vereinbart, die sich in den Stoßrichtungen „Klare Konturen“, „Grüne Adressen“, „Starke Mitte“, „Mehr Wohnen“, „Coole Quartiere“, „Dynamisches Band“ und „Urbane Nähe“ wiederfinden. Ein zentraler Punkt ist, dass wir uns zu einer flächensparenden Bodenpolitik bekennen, mit klarem Fokus auf die vorhandenen Ressourcen innerhalb der Konturen des Siedlungsraums. Das Ganze wurde 2016 vom Gemeinderat als Rahmenplan beschlossen und damit Ausgangspunkt planerischer Überlegungen der Siedlungsentwicklung der nächsten Jahre.
Wo liegen die Stärken des Leitbilds? Neben der Einordnung von Einzelprojekten in einem größeren Kontext, vor allem in der ganzheitlichen Perspektive beim Betrachten städtebaulicher Fragestellungen. Denn dadurch, dass das Leitbild keiner eigenen thematischen Agenda folgt, stehen sich die Belange der Aufgabenfelder Wohnen, Arbeiten, Freiraum, Klima und Mobilität – in ihren vielfältigen und vielschichtigen Verflechtungen – gleichberechtigt gegenüber. Das macht Entscheidungsprozesse nicht einfacher, aber die Entscheidungen deutlich belastbarer.
Um jetzt keine zu großen Hoffnungen zu wecken: Das Räumliche Leitbild ist kein ultimativer Schutz vor intensiven, manchmal erbitterten Debatten, der Auseinandersetzung mit empörten Bürgerinitiativen und Zeitplänen, die sich zum dritten Mal selbst überholen. Vieles was wir uns in Karlsruhe vorgenommen haben, hat mit Planung im Bestand zu tun. Auf der konzeptionellen Ebene klingt das einfach, aber wir alle wissen: Wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen, da tritt man leicht jemandem auf die Füße. Interessen und Bedürfnisse bei städtebaulichen Planungen und Projekten sind nun mal vielfältig und schließen sich mitunter gegenseitig aus. Da wir in diesen Gemengelagen mit unseren Standardverfahren oft nur mühsam vorankommen, erproben wir in Karlsruhe auch neue Herangehensweisen: Für die besonderen Herausforderungen wie zum Beispiel Mobilitätswende und Transformation der Innenstadt schaffen wir verwaltungsintern ressortübergreifende Querschnittsstrukturen. Wir testen in Reallaboren verschiedenste Maßnahmen und experimentieren damit neue Wege der Teilhabe.
Aktuell steigen wir in das Monitoring unseres Räumlichen Leitbilds ein. Stoßrichtungen und Vorhaben werden überprüft, geschärft und gegebenenfalls ergänzt. Dabei wurde uns schnell klar: Sechs Jahre in der strategischen Stadtentwicklung sind keine lange Zeitspanne und trotzdem sind die Veränderungen in dieser Zeit massiv. Pandemie, Energiekrise und Klimawandel haben die Rahmenbedingungen geändert. Diese gilt es jetzt auszugestalten. So beobachten wir nach drei Jahren Pandemie eine Tendenz zur Dezentralisierung der Stadt: Home-Office statt Pendeln, Online-Shopping statt Einkaufsbummel oder Lieferdienst statt Mittagstisch. Für viele der Dinge, die wir üblicherweise in der Innenstadt erledigt haben, gibt es etablierte Alternativen – die alten Gewohnheiten zwar nicht zwangsläufig ersetzen, aber zumindest ergänzen. Was macht das mit unseren Zentren, wenn nicht mehr so viel Flächen für Büro und Einzelhandel oder Gastronomie nachgefragt werden? Welche Nutzungskonzepte bieten sich stattdessen an? Und was bedeutet das für unsere Quartiere, wenn der Lieferverkehr zunimmt oder sie auf einmal nicht mehr nur Schlafstadt, sondern auch wieder Arbeitsplatz und lokales Versorgungszentrum sind? Wie greifen diese Veränderungen in unsere Lebensbedingungen ein und wie ist Teilhabe und Beteiligung hierfür neu zu denken?
Wir arbeiten engagiert daran, Antworten auf all diese Fragen zu finden – nicht zuletzt, um damit im Sinne der neuen Leipzig-Charta mit dem Räumlichen Leitbild die Idee der „gerechten, grünen und produktiven Stadt“ weiter zu konkretisieren. Wenn uns das gelingt – wer weiß – vielleicht springt dabei sogar ein neues Postkartenmotiv für das neue Karlsruhe heraus.
Dr. Frank Mentrup
Oberbürgermeister Stadt Karlsruhe