Frei nach Friedrich List, dem vielleicht bekanntesten Reutlinger Ökonomen, sei „die Kraft, Reichtümer zu schaffen unendlich wichtiger als der Reichtum selbst“. Mit jener Kraft war damals nicht allein das materielle Vermögen gemeint, sondern vielmehr die mentalen, produktiven Kräfte einer Gesellschaft. In diesem Sinne wird die Fokussierung der Stadtentwicklung auf die Aspekte bezahlbarer Wohnraum, Klimaneutralität und wirtschaftliches Bauen erhebliche gesellschaftliche Kompetenzen einfordern.
Mit einer 2020 in Kraft getretenen Rechtsverordnung zählt Reutlingen zu einer der 89 Gemeinden mit angespanntem Wohnungsmarkt in Baden-Württemberg. Der damit verbundene Auftrag lautet, die Bevölkerung mit Wohnungen zu angemessenen Bedingungen zu versorgen. Neben jener rein administrativen Reglementierung von Mietverhältnissen besteht aber auch weiterhin ein existenzieller Wunsch nach angemessenem Wohnraum, der sich angesichts der großen Nachfrage nur über neue attraktive Wohngebiete – inklusive der sozialen Infrastruktur – verwirklichen lässt.
Wohngebiete, die nach zeitgemäßem Postulat möglichst klimaneutral, nachhaltig und resilient den aktuellen Anforderungen von Menschen in allen Lebenslagen gerecht werden sollen. Hierfür stehen grundsätzlich Leitbilder wie „Stadt der kurzen Wege“ oder „Europäische Stadt“ Pate; Begriffe wie „Schwammstadt“ machen die Runde.
In den Vordergrund drängt sich an dieser Stelle die Frage nach der Angemessenheit: mit welcher der uns bekannten Skalen lässt sich jene – ergo Begriffe wie Bezahlbarkeit, Neutralität und Wirtschaftlichkeit – am treffendsten abbilden?
Reutlingen konzentriert sich in seiner Entwicklung bislang vorwiegend auf un- oder untergenutzte Bestandsgebiete und Strukturen, welche per städtebauliche Wettbewerbe oder Konzeptvergaben sowohl von privaten Bauträgern als auch von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft realisiert werden. Untersetzt werden die Plan- bzw. Bauvorhaben durch den Abschluss städtebaulicher Verträge zur Durchsetzung sozialer, klimarelevanter oder technischer Zielsetzungen.
Vereinbart werden in aller Regel ein Mindestkontingent an öffentlich gefördertem Wohnraum zugunsten einkommensschwächerer Haushalte als auch beispielsweise der Einsatz von Dachbegrünungen oder erhöhter Dämmstandards in Reaktion auf den Klimawandel. Die Ausstattung von Dächern mit Photovoltaik-Elementen ist mittlerweile landesrechtlich fixierte Pflicht.
Darüber hinaus hat sich die regelmäßige Hinzuziehung des Gestaltungsbeirats als erprobtes Mittel zur Wahrung von Qualitäten und Ästhetik erwiesen, womit Reutlingen gewissermaßen das „New European Bauhaus“ (Ästhetik, Nachhaltigkeit, Inklusivität) aufgreift.
Die vorgenannten Instrumente der Binnenentwicklung reichen allerdings nicht aus, den gebotenen Ausbau der Stadt Reutlingen zu gewährleisten. Städteentwicklung bedeutet somit die Ausweisung neuer Siedlungsflächen und damit verbundener Eingriffe in Natur und Landschaft. Zwar hat ein frühzeitiger Baulanderwerb mit späterer Bauverpflichtung die klassische Bodenordnung abgelöst, doch verursacht der naturschutzfachliche Ausgleich – sofern überhaupt möglich – aufgrund einer verschärften Gesetzgebung zunehmend höhere Folgekosten. Bereits die Bauleitplanung betritt hier das Themenfeld „wirtschaftliches Bauen“. Was bedeutet das?
Wirtschaftlichkeit bezeichnet bekanntermaßen eine Kosten-Nutzen-Relation, die im Planungs- und Bauwesen augenscheinlich in Schieflage zu geraten droht. Die Liste der Aufwendungen beginnt beim Preis für Grund und Boden, und über diesbezügliche Stellschrauben verfügt eine Kommune lediglich in Form einer traditionell veranlagten, vorausschauenden Bodenbevorratung. Auf eine Kostensteigerung durch Hebung baulicher Standards hat sie indes keinen direkten Einfluss, sondern kann bestenfalls beratend aktiv werden. Eine kostengünstige Errichtung (Kubatur, Materialeinsatz) und Nutzung (Energieeffizienz, Wärmeschutz) von Gebäuden über deren gesamten Lebenszyklus (Werterhalt) obliegt dem jeweiligen Bauherrn und seinem Planer.
Die eingangs erwähnten mentalen Kräfte einer Stadtgesellschaft werden sich in der Akzeptanz und der Fähigkeit manifestieren, offensichtlich knapper werdenden Ressourcen gerecht zu verteilen. Die Definition von Wirtschaftlichkeit – größtmöglicher Gewinn bei kleinstmöglichem Einsatz – scheint sich gewissermaßen umzukehren: derzeit investieren wir größte Mittel, die auf der Zeitachse verteilt zunächst nur geringe Gewinne erwarten lassen.
Die Kraft, im übertragenen Sinn Reichtümer zu schaffen, besteht darin, auf lange Sicht ein in vielen Facetten attraktives und stets zukunftsfähiges Lebensumfeld zu gestalten. Nicht nur im Rahmen der Reutlinger Wohnbauflächenoffensive hat sich die Stadt mit mehreren, qualitativ anspruchsvollen Projekten und in ständigem Dialog mit ihren Bürgerinnen und Bürgern auf den Weg gemacht, diese Kraft zu mobilisieren. In meinen Augen, eine gute Investition.
Thomas Keck
Oberbürgermeister der Stadt Reutlingen